Schon seit einer ganzen Weile hat mich kein Buch mehr so mitgenommen wie „Raum“ von Emma Donoghue. Der Roman ist auf Deutsch bereits 2012 bei Piper erschienen und inzwischen verfilmt worden, trotzdem aber irgendwie vollkommen an mir vorbei gegangen. Dabei hätte selbst der spannenste Thriller mich kaum mehr packen können.
Handlung: Die ganze Welt in einer Gartenhütte
Eine junge Frau wird entführt und über Jahre in einer Gartenhütte festgehalten. So weit kennen wir das sicher aus vielen Krimis und Thrillern. Aber was, wenn diese Frau nun ein Sohn bekommt, dessen ganze Kindheit sich nur innerhalb dieser kleinen Hütte stattfindet?
Das ist Raum – die ganze Welt des kleinen Jack. Sein ganzes Leben spielt sich auf wenigen Quadratmetern ab. Seine Freunde sind die Cartoonfiguren im Fernsehen. Und die Spinne unterm Esstisch. Jack wünscht sich einen Hund. Aber die gibt es ja gar nicht in echt. Schließlich hat er in „Raum“ noch nie einen gesehen.
Dass Jack und seine Ma Gefangene in Raum sind, ist ihm nicht bewusst. Er kann sich kaum vorstellen, dass es da draußen noch mehr geben soll als die Sonne, die durch das Dachfenster hereinscheint. Bis seine Ma eines Tages beginnt, ihm vorsichtig zu erzählen, dass es die Dinge im Fernsehen auch in echt gibt – und wie sie in Raum gekommen ist.
Schreibstil: Ungewöhnliche Perspektive glaubhaft übermittelt
Ich habe „Raum“ als Hörbuch gehört und in den ersten Minuten war ich wirklich ein wenig irritiert. Der Sprecher (der seine Sache übrigens fantastisch macht!), ist logischerweise ein Erwachsener. Das Buch wird allerdings aus der Sicht des Jungen Jack erzählt. Es fühlte sich ein wenig befremdlich an, den sehr kindlich geschriebenen Text von einem Erwachsenen zu hören. Im Laufe der Geschichte war ich allerdings ziemlich froh, diese kleine Distanz zum Inhalt wahren zu können.
Ob die Ausdrucksweise wirklich realistische Kindersprache ist, kann ich mangels Referenzerfahrungen nicht einordnen. Für mich machte der Erzähler mit seiner Wortwahl einen glaubhaften Eindruck.
Das Buch lebt von dieser ungewöhnlichen Perspektive. So lernen wir beim Lesen die Welt aus Jacks Augen kennen – und entdecken wie sehr sein beschränktes Umfeld sein Weltbild geprägt hat. Mit kindlicher Naivität hinterfragt er nicht die Taten, die zu seinem Leben in Raum geführt haben. Stattdessen entdecken wir beim Lesen immer wieder kleine Details, deren Tragik wir viel besser einordnen können als die Hauptfigur selbst.
Spannung: Wenig Action und trotzdem fesselnd
Im Laufe der gut 400 Buchseiten (oder gut 6 Hörstunden) passiert eigentlich nicht viel. Wir lernen den Alltag von Jack im Raum kennen, erleben eine Flucht und die Herausforderungen des neuen Alltags im „draußen“. Wenngleich das Buch mit einer echt tollen Plot-Struktur überzeugt, verläuft die Handlung zwischen den Plot-Punkten sehr ruhig.
Trotzdem habe ich das Hörbuch in Rekordzeit verschlungen, weil ich unbedingt wissen musste, wie es weiter geht. Jacks Perspektive lässt selbst die banalsten Handlungen spannend erscheinen. Er ist nicht nur ein Kind – er ist ein Kind, das noch nie sein Gefängnis in einer Gartenhütte verlassen hat.
Zusätzlich hat mich das Buch überrascht, indem es die Handlung viel weiter gesponnen hat, als ich erwartet hatte. Für mich war klar: Jack und seine Ma müssen aus Raum fliehen, dann sind sie gerettet. Zum Glück hat die Autorin weitergedacht, denn im „draußen“ wird Jack erst so richtig aus seiner Comfort Zone geschüttelt und hat plötzlich einen Haufen neuer Probleme, von denen er nichts geahnt hatte.
Bei all der Schwärmerei verzeihe ich dem Roman auch den einzigen größeren Kritikpunkt, den ich an ihm auszusetzen habe: Mir persönlich kam die Art, wie Jack und seine Ma aus Raum fliehen viel zu reibungslos vor. Ich hätte erwartet, dass der Entführer hier schlauer handelt und die List durchschaut. Da es sich aber nicht um einen abgebrühten Thriller handelt und der Fokus auf Jacks Charakterentwicklung liegt, ist das okay.
Figuren: Relevanz wem Relevanz gebührt
Für einen ganz bestimmten Aspekt möchte ich gerne in lautes Beifallklatschen ausbrechen: Der Roman gibt den Figuren eine Bühne, die es verdient haben.
Das Hauptaugenmerk liegt auf Jack als Perspektivfigur. Er ist ein aufgeweckter kleiner Junge, seinem Alter gemäß noch ein wenig naiv und unwissend. Er liebt feste Routinen und kann es nicht leiden, wenn sich Kleinigkeiten seiner Kontrolle oder seiner Kenntnis entziehen.
Bemerkenswert finde ich die Entwicklung, die Jack im Laufe der Geschichte durchmacht, wie viel Mut und Selbstbewusstsein er gewinnt und trotzdem stets anders bleibt als andere Kinder in seinem Alter.
Als einziger Bezugsperson in Jacks leben, wird seiner Mutter ebenfalls viel Raum gegeben. Allerdings ist es nicht ihr Schicksal, das im Vordergrund steht, sondern ihre Rolle als Jacks Mutter. Deshalb ist sie zwar stets präsent, wie es um ihr Innenleben bestellt ist, müssen wir uns beim Lesen jedoch selbst zusammenreimen.
Wer hingegen nur sehr wenig Beachtung erfährt, ist Old Nick, der Entführer von Jacks Ma. Weder erfahren wir, was seine Beweggründe waren, noch wie es ihm nach der Flucht seiner Opfer ergeht. Old Nick ist eine Randnotiz. Und das ist auch goldrichtig so, denn dies ist nicht seine Geschichte.
Fazit: Nichts für schwache Nerven
Nicht nur das Thema, sondern vor allem die einzigartige Perspektive machen diesen Roman zu echt harter Kost – aber im besten Sinne. Der Roman geht empathisch mit seinen Hauptfiguren um und lässt Raum für eigene Schlüsse.
Eine ganz klare Leseempfehlung für alle Fans psychologischer Thriller, für die es nicht immer nur um Mord und Verfolgungsjagten gehen muss, sondern in der Handlung auch mal ruhiger zugehen darf.